Ernst und Hilde Federn. Eine biographische Studie von Bernhard Kuschey.
In: Journal für Psychoanalyse. S. 171-176. 43 / 2004.
Am 1. Juli dieses Jahres wurde ein Ehepaar mit der Victor-Adler-Plakette gewürdigt und geehrt. 71 Jahre sind sie – nein, nicht alt, auch nicht so lange verheiratet, sondern - Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei Österreichs. Ein Menschenleben lang. Hilde und Ernst Federn.
Sie (geb. 1910) und er (geb. 1914) sind wahrhaftig Zeitzeugen des 20. Jahrhunderts. Die kindlichen Wurzeln im Bürgertum der Habsburger-Monarchie vergraben, prägen u.a. sozialdemokratische Erziehung und Bildung in der Ersten Republik, revolutionäres Engagement und Verhaftung während des Austrofaschismus, Verfolgung und Konzentrationslager während des Nationalsozialismus, Befreiung, Emigration in die U.S.A. und Rückkehr nach Wien, gemeinsame Erlebenszusammenhänge, über die es naturgemäss unendlich viel zu erzählen gibt.
In Bernhard Kuschey – Historiker und Lehrer an einem Wiener Gymnasium – haben sie einen Partner und inzwischen einen Freund gefunden, der nicht nur historisch geschult ist und analytisch sensibel arbeitet, sondern vor allem geduldig zuhören kann. Und das seit fünfzehn Jahren. In zwei Bänden, auf über tausend Seiten, hat Kuschey seine Gespräche mit dem Ehepaar Federn dokumentiert, analysiert, mit ergiebigen zeitgeschichtlichen Recherchen kontextualisiert und damit eine erstaunliche biographische Zusammenarbeit publiziert.
Um es vorwegzunehmen: Bernhard Kuscheys Verständnis von ‚oral-history’ beschränkt sich nicht in der Aufnahme und Protokollierung von Erzählungen. Für ihn ist ein Gespräch keine Einbahnstrasse, sondern ein sozialer Vorgang, als Beziehungsgeschehen einzigartig. Die Subjektivität aller beteiligten Gesprächspartner ist ihm nur durch einen interpretativen Prozess zu erschliessen, der wiederum Emotionen und Ambivalenzen mobilisiert. Die Bearbeitung und (Re-)Konstruktion der beiden Lebensgeschichten wird so zum gemeinsamen Produkt dreier Personen. Kuschey erliegt nicht der Illusion einer „neutralen“ Erinnerungsbegleitung, sondern er lässt teilhaben an den Irritationen, Ängsten und Zweifeln, die jeden Biographen befallen müssen. Der Autor (Jg. 1955), der vierzig Jahre nach den Protagonisten selbst „den Emanzipationsprozess auf revolutionäre Weise vorantreiben“ wollte (aber unter welcher Flagge?), stellt sich mutig in die gemeinsame Erinnerungsarbeit, erfährt Idealisierung, Entwertung, Mitleid und Scham und ertappt sich - angesichts der Wucht subjektiver Geschichtsproduktion - gar bei einer quälenden Zwangsvorstellung: „Wird es zu einer Belegung der Federnschen Überlebensgeschichte durch andere Quellen kommen können?“ Ein solcher Zugang wird für den Leser dieses lebendigen, intergenerativen Dialogs zu einem spannenden Erlebnis.
Chronologisch folgt Kuschey dem Ehepaar in ihre Kindheit und Jugend. Hilde Federn war bei den Grosseltern ihres Vaters, Alois Paar, in Stadlau aufgewachsen und genoss eine katholische Erziehung. Von der jüdischen Herkunft ihrer Mutter, Theresia Grünwald, wusste sie nichts. Vor Beginn des Ersten Weltkriegs zog der Vater nach Wien und gründete eine Bau-, Portal- und Glasschleiferei-Firma. Nach Ende der Pflichtschule kam Hilde Paar zu ihren Eltern, absolvierte eine private Sprachschule und 1930-1932 die Kindergärtnerinnen-Bildungsanstalt. Eine Berufung für die elterlich geprägte Sozialdemokratin im „Roten Wien“, an der Entwicklung einer fortschrittlichen Kinderpädagogik teilzuhaben. Für einen Job in einem der 111 Gemeindekindergärten reichte es nicht mehr. Der aufkommende Faschismus machte Karrierechancen zunichte und provozierte Widerstand.
Auch für den Jus-Studenten Ernst Federn, der sich mit Haut und Haar der politischen Arbeit verschrieb - „viel studiert habe ich nicht“. Auch ihm war die sozialdemokratische Gedankenwelt in die Wiege gelegt. Die Eltern, Wilma und Paul, waren schon im vorhergehenden Jahrhundert zum Protestantismus konvertiert, wussten kaum etwas von jüdischen Gebräuchen und Riten – „meine Mutter war antisemitisch“ – und pflegten ein ‚sozialdemokratisches Haus’, das für politisch und wissenschaftlich moderne Menschen und Ideen offen stand. Der Vater war 1903 einer der ersten Ärzte, der sich Sigmund Freuds Mittwoch-Gesellschaft anschloss, wurde sein Vertrauter und trotz inhaltlicher Unterschiede – nach Freuds Krebserkrankung – sein getreuer Stellvertreter. Ernst, wie seinen beiden älteren Geschwistern Annie und Walter, blieb Paul Federns politisches Engagement als sozialistischer Bezirksrat nicht verborgen, ebenso die unentgeltliche Behandlung Mittelloser, die Pionierleistungen in der Psychohygiene und auch die literarischen Meilensteine, wie „Die vaterlose Gesellschaft“ – eine Analyse der Absetzung des Kaisers und die Ausrufung der Republik nach dem verlorenen Krieg. Ernst bildete und engagierte sich folgerichtig bei den „Roten Falken“, in der „Vereinigung Sozialistischer Mittelschüler“ und „-Studenten“ und der Akademischen Legion, der universitären Einheit des Schutzbundes. Identifikationsfiguren gab es zu Hauf: Max Adler, Käthe Leichter, Oskar und Marianne Pollak und vor allen anderen, die Freundin der Familie, die grande dame der revolutionären Linken: Therese Schlesinger. Sie war Federns „politische Ziehmutter“, förderte den enthusiastischen „Berufsrevolutionär auf Kosten des Vaters“ und schenkte ihm ein folgenschweres Buch: „Mein Leben“, die Autobiographie Leo Trotzkis. Der von Stalin verfolgte Bolschewik sollte die Leerstelle füllen, die die abhanden gekommenen sozialistischen Führer entlang des demokratischen Untergangs 1933/34, hinterlassen hatten. Innerhalb der Sozialdemokratie sollte für die Ideen Trotzkis geworben, die illegale sozialistische Bewegung radikalisiert werden.
Die 23-jährige Kindergärtnerin war fasziniert von dieser Radikalität und den revolutionären Höhenflügen des 19-jährigen Studenten – „Ich blöde Gans habe dir das geglaubt, so verliebt war ich.“ Doch bald waren diesem Glauben und dieser Liebe schwere Prüfungen auferlegt.
Hilde Paar verdingte sich als Privaterzieherin und kam so in familiären Kontakt mit der intellektuellen Elite der Stadt. Die Kinder Annie und Wilhelm Reichs zählten ebenso zu ihren Schützlingen, wie der Enkel Leo Trotzkis, Sewo Wolkow; inhaltliche Bezugspunkte waren die Pionierinnen der Kinderanalyse: Anna Freud und Anna Mänchen-Helfen. Der Geliebte Ernst agitierte währenddes unermüdlich und verteilte die illegale Arbeiter-Zeitung, bis im März 1936 für beide unweigerlich Enttarnung und Verhaftungen folgten.
An politische Arbeit war danach nicht mehr zu denken, an eine Fortsetzung des Studiums ebenso wenig. Eine gemeinsame Ausbildung in Heilpädagogik sollte in die Zukunft weisen, die jedoch nur mehr wenige Monate andauerte. Mit dem Einmarsch der deutschen Truppen in Österreich tat sich eine nicht erahnbare Hölle auf, die die Biographien des Liebespaares zerreissen sollte – danach war nichts wie vorher.
Am 14. März 1938 wurde Ernst Federn in der elterlichen Wohnung verhaftet und wenig später in das Konzentrationslager Dachau deportiert. Als Trotzkist war er aktenkundig, aber die neue Definitionsmacht legte fest, als was er sich nie gesehen hatte: als Jude. Auch Hilde Paar musste erfahren, dass sie ab nun zu den „Mischlingen ersten Grades“ gezählt wurde, und dass sie es als ein Glück empfinden durfte, nach dem ersten Schritt – der im Gefängnis vollzogenen Verlobung – nicht die Heirat gesetzt zu haben. So war sie relativ geschützt in der neuen rassenwahnhaft definierten Gesellschaftsordnung. Der Familie Federn gelang im Frühsommer 1938 die lebensrettende Emigration nach New York. Für Hilde wurde das Leben in Wien zur Tortur, die Sorge um die Eltern nur noch von der um den unsichtbaren Geliebten übertroffen. Laufen, laufen, Schlange stehen, Bittstellen. Die einzigen Haltegriffe waren die zensurierte Post von Ernst aus dem KZ und die allerorts kursierende ‚stille Post’ der Betroffenen: Gerüchte, die sich wie Lauffeuer verbreiteten und sich wenig um Realitäten scherten. Vielleicht war es oft sogar besser, vor ihnen verschont zu bleiben, denn selbst nach einem halben Jahrhundert fällt es schwer diesen Realitäten in die Augen zu sehen. Ernst Federn war „in der Lagersprache ‚fertig’“, und das nach wenigen Wochen, weil er seine Schuhe nicht finden konnte, wunde Füsse bekam und unter der Last des Schubkarrens zusammenbrach. Eine Stunde Baumhängen war die Antwort der SS. Und trotz allem: „Verglichen mit Dachau war Buchenwald die schiere Hölle.“
In den verdichteten Erinnerungen ist ihm Bernhard Kuschey auch dorthin gefolgt. Der Autor profitiert von der psychoanalytischen Bildung seines Gesprächspartners. Man spürt das gegenseitige Vertrauen, das jahrelang gewachsen, den Zuhörer – auch mit Humor! – vor der Eskalierung der Einfühlung zu schützen imstande war und im Gegenzug den Erzähler zu tieferen Erinnerungen vordringen liess, als zur schon gewohnt bearbeiteten Erzählung, die von Affekten poliert scheint. Die extremtraumatischen Erfahrungen Ernst Federns sind auch in der langen Zeitdistanz nicht zur Geschichte erstarrt, sondern in ihrer Totalität virulent und es nimmt nicht wunder, dass mehr als die Hälfte der „biographischen Studie“ dieser sieben Jahre währenden Todesnähe gewidmet ist, auch wenn die Autorenschaft dieser Schwerpunktsetzung ungewiss bleibt. Der nüchterne Untertitel des Werks „... Analyse der Binnenstruktur des Konzentrationslagers“ ist wörtlich zu nehmen. Kuschey folgt den mannigfaltigen Erinnerungsspuren Federns mit zeitgeschichtlicher Nachforschung und eröffnet damit Einblicke in diesen ‚psychotischen Mikrokosmos’, die oft schwer erträglich sind. Penibel werden Lagergesellschaft und –alltag beschrieben und analysiert; der Kampf der Häftlingsgruppen verständlich gemacht oder die Lagerfeme im Kampf der Funktionshäftlinge beleuchtet. Dass gar Tabuthemen wie etwa die ‚Bedeutung und Form von Sexualität im KZ’ ausführlich zur Sprache kommen, ist einmal mehr der analytischen Perspektive und aussergewöhnlichen Gesprächsbeziehung zuzuschreiben.
Federn war einerseits als politischer Häftling privilegiert, andererseits - als „Trotzkist“ und „Jude“ stigmatisiert – von der stalinistischen Hegemonie in der Häftlingsstruktur ebenso mit dem Tode bedroht, wie vom Vernichtungswillen der Nazis. „Der Ausnahme des Überlebens“ ist schwerlich eine Logik abzugewinnen. „Ich bin ein aussergewöhnlicher Fall!“ benennt Federn selbst die Überschrift seiner Biographie; oder war es „ein bisschen schon ins Pathologische gehende Selbstüberschätzung“? oder „dass die narzisstische Abwehr wahrscheinlich gewisse psychotische Formen angenommen hat, zum Beispiel meine Überzeugung der Unverwundbarkeit.“ ? - ‚Glück’ war es allemal, sei es durch die privilegierten Positionen als Nachtwächter oder Maurer; oder dank politischer Weitsicht: 48 Kilo wog Ernst Federn bei der Befreiung und trotz aller erlittenen Pein, Todesnähe und Sehnsucht widersetzte er sich der Versuchung Liebe, Schutz und Geborgenheit bei der Geliebten in Wien zu finden. Anstatt nach Hause, ging er mit befreiten Kameraden nach Brüssel, weil er, nach all den Lagererfahrungen, um den langen Arm des stalinistischen Machtapparats wusste. Sein Genosse Karl Fischer wollte dies nicht wahrhaben, und nach seiner Rückkehr nach Wien folgten auf die Jahre im KZ weitere acht im Gulag.
Manisch stürzte sich Federn in die politische Arbeit, schrieb über „Die Psychologie des Terrors“ und litt an den Folgen der Horrorjahre. Er habe furchtbar laut gesprochen, nur über schreckliche Dinge, ohne irgendwelche Rücksicht zu nehmen und: „Ich habe auch Brotkrümmel, die herumgelegen sind, aufgeklaubt und gegessen.“ Es dauerte bis im November 1946, bis Ernst Federn seine Hilde in Brüssel wiedersehen konnte, was nach all dem Erlebten und mehr als acht Jahren der Trennung, alles andere als einfach war „... dann war er ganz kahl, ganz grau. Man ist so erschrocken!“
Am 31. Dezember 1947 verliess das Paar Europa und ging nach New York. Der grosse Bruch, die eigentliche Entwurzelung und Heimatlosigkeit im weitesten Sinne. Aus dem politischen Aktivisten wurde der Schutzherr seiner Familie, die ihm nur mehr für kurze Zeit einen Rückhalt bieten konnte. In den Jahren 1949/50 verstarb die Mutter, der Vater verübte Selbstmord und der Bruder erlitt einen schweren schizophrenen Schub. Hildes Vater starb in Wien, während sie in New York ihren Sohn Thomas gebar. Ernst Federn liess sich als Social Worker ausbilden und es folgte die Übersiedlung nach Cleveland/Ohio, wo sie bis zu ihrer Rückkehr – auf Einladung des damaligen Justizministers Christian Broda - nach Wien im Jahre 1972 lebten.
Doch darüber ist nur mehr wenig zu lesen. Die biographische Studie bricht hier ab. Schade. Denn wenn man den drei Gesprächspartnern biographisch über tausend Seiten gefolgt ist, bleibt man neugierig und hätte gerne mehr erfahren: über die Erfahrungen als psychoanalytischer Sozialarbeiter in der amerikanischen Provinz; wie von beiden die Rückkehr nach Wien erlebt wurde oder wie sich Ernst Federn als Sozialpsychologe und ehemaliger Häftling gefühlt hat, an der Modernisierung des österreichischen Strafvollzugs mitzuwirken? War es tatsächlich – wie Josef Shaked einmal schrieb – „ein Triumph über seine Peiniger, in Gefängnissen als weiser und humaner Berater und Lehrer Wachpersonal unterweisen zu dürfen, wie man mit Gefangenen mit einem Minimum an Gewalt und Respekt vor ihrer Menschenwürde umgehen kann“?
Wahrscheinlich war die Kraft aller Interviewbeteiligten verbraucht und in der grellen Beleuchtung der Begegnung mit dem Tod verblassen die folgenden Jahre zur Selbstverständlichkeit. Eine solche Aussparung ist verständlich und tut deshalb der beachtlichen Leistung dieses Interviewprojekts keinen Abbruch, wie der gebührenden Huldigung eines ausserordentlichen Ehepaares: Hilde und Ernst Federn.
Bernhard Kuschey: Die Ausnahme des Überlebens. Ernst und Hilde Federn. Eine biographische Studie und eine Analyse der Binnenstruktur des Konzentrationslagers. (2 Bände). Psychosozial-Verlag. 2003. 1082 Seiten.