Das Gift das man eintrinkt


Gebrochene Biografie: Ella Lingens’ Erinnerungen.

In: Die Presse - Spectrum. 27. Dezember 2003.


„Im Geist sah ich meinen kleinen Jungen vor mir und hörte sein rührendes Stimmchen, mit dem er beim Abschied die Ärmchen um meinen Hals gelegt und gebettelt hatte: ‚Mama, bleib bei mir!’“ Tausendfach verspürte die Mutter diese quälende Sehnsucht nach ihrem dreijährigen Sohn, die zugleich Kräfte mobilisierte, die sie die Hölle überleben ließen: das Konzentrationslager Auschwitz. Zweieinhalb Jahre später kehrte sie zurück. Sie trug schwarze Stiefel und hatte schlohweißes Haar. Der kleine Junge erkannte seine Mutter nicht wieder.

 

Mit diesem traumatischen biographischen Einschnitt beginnt die Autobiographie von Ella Lingens. Ihr Kind, Peter Michael Lingens, firmiert als Herausgeber des bereits im Jahre 1947 verfassten Berichts, versah es mit einem informativen Vorwort, stilistischen Korrekturen und aktuellen Bezugnahmen. Mehr noch: die persönliche Nähe führte gar dazu, dass der Sohn das erste Kapitel „mit den Worten der Mutter“ schreibt, gemeinsame Gespräche aus seiner Erinnerung rekapituliert und dem Buch quasi eine symbiotische Autorenschaft verleiht, die irritiert – denn der Urtext liest sich dadurch anders.

 

Im Original spürt man, wie die brennenden Erinnerungen, die noch nicht durch die Jahrzehnte sozial gestaltet und von Affekten poliert sind, im sprachlichen Ausdruck zu einer unmittelbaren Gestalt geformt wurden. Der Unterschied macht sich besonders bemerkbar, wenn die Änderungen gar der aufklärenden Intention des Buches zuwiderlaufen. Ein Ausmaß der zerstörenden Unterdrückung der Nationalsozialisten war doch, dass Mord zur Alltäglichkeit wurde. In einem Konzentrationslager zigtausendfachem Mord im eigenen Überlebenskampf nicht mehr jene empathische Mitleidenschaft entgegengebracht werden konnte, wie es einem Einzelfall gegenüber möglich ist. „Man sprach schon beinahe wie die SS ... Man wagt es kaum auszusprechen, aber wir alle haben uns daran gewöhnt“, schrieb Ella Lingens in aller mutigen Ehrlichkeit und angesichts des Entsetzens, wie sehr sie sich in diesem psychotischen Mikrokosmos, menschlichen Anpassungsmechanismen an den Wahnsinn ergeben musste. So nimmt es nicht wunder, dass 1947 anstatt von „Frauen“ noch von „interessantem Krankenmaterial“ oder „Untersuchungsobjekten“ die Rede ist, oder die Musikkapelle der Häftlinge spöttisch als „Schallwellentherapie“ bezeichnet wurde. Jetzt fehlen diese Formulierungen und damit die Sprache des Terrors, jenes „Gift“ – wie Victor Klemperer es formulierte – „das du unbewusst eintrinkst, und das seine Wirkung tut“, bleibt undokumentiert. Die Angst vor Missverständnissen hätte leicht durch einen Anmerkungsapparat beseitigt werden können.

 

Trotz allem, das Buch ist ein Meilenstein der Erinnerungsliteratur, wobei die Co-Autorenschaft nachvollziehbar ist. Der Sohn ist Teil der gebrochenen Biographie. Er hat Auschwitz nicht erlebt, aber er war dabei. Lebenslänglich.

 

Bereits der Taufpate von Peter Michael Lingens repräsentiert die volle Tragik dieser Geschichte: Karl Motesiczky – ein enger Freund der Eltern, Ella und Kurt, Lingens. Er stammte aus einer reichen Wiener Adelsfamilie, war Kommunist, Psychoanalytiker, genoss das Leben eines Bohemien und lebte zusammen mit den Freunden auf seinem Landsitz in der Hinterbrühl. Ella Lingens kam selbst aus wohlbegütertem Haus und ihr Mann war Sohn des Kölner Polizeipräsidenten. Bis in die ersten Kriegsjahre lebte die kleine Studentengruppe ohne Entbehrungen, sorgten sich um den neugeborenen Sohn und fühlten sich sicher. Mit diesem Rückhalt begannen sie verfolgten Juden Unterschlupf zu gewähren und bei der Flucht zu helfen - bis sie verraten und am 13. Oktober 1942 verhaftet wurden.

 

Kurt Lingens hatte Glück. Eine Intervention rettete ihn in eine Strafkompanie. Ella Lingens und Karl Motesiczky deportierten die Nazis nach Auschwitz, wo er am 25. Juni 1943 ermordet wurde. Sie überlebte. Mit viel Glück und nur dadurch, weil das diabolische System der Nationalsozialisten selbst ganz unten noch ein oben definierte. Privilegiert „als Ärztin, Arierin, Deutsche und wohl auch sehr schöne Frau, die keiner der ihr vorgesetzten SS-Ärzte sterben sehen wollte“, wurde Ella Lingens Zeugin einer Mordmaschinerie. 

 

Ihr abgelegtes Zeugnis besticht ob der Sensibilität, Differenziertheit und analytischen Kraft, mit der sie nicht nur die Lagergemeinschaft, sondern auch die Täter beschreibt und dabei alle Facetten von (Un-)Menschlichkeit darzustellen imstande ist. Bestechend, dass sie sich selbst von der Analyse nicht ausnimmt.

 

In der Begegnung mit Helden, Märtyrern, Verrätern, Sadisten, Zynikern und Mördern benennt sie schonungslos ihre eigene Angst, Wut, Ohnmacht, Freude, Enttäuschung, Trauer und v.a. Verzweiflung. Sprachlos verfolgt man die erdrückende Situation, die sie selbst zur Herrin über Leben und Tod werden ließ. Die SS zwang sie zur Entscheidung, welche der Fleckfieberkranken ein lebensrettendes Herzmittel bekommen sollten, dass nur für wenige Patientinnen ausreichte. „Sollte man der einen oder der anderen helfen?“ Eine grausame Entscheidung, die keine Gerechtigkeit, sondern nur sinnlose Selbstvorwürfe nach sich zieht. Gebannt folgt man den außergewöhnlichen Erfahrungen einer außergewöhnlichen Frau, die nach der Befreiung niemand hören wollte. Die Psychoanalytiker ebenso, wie ihr eigener Mann, der nicht an ihre Rückkehr glauben wollte.

 

Er hatte eine Geliebte und öffnete nicht die Tür. So tippte Ella Lingens ihr Inferno in die Maschine, kümmerte sich um die Erziehung ihres Kindes und wurde Ärztin. Leider konnte sie nicht mehr erleben, dass ihr so wichtiges Buch in den best-seller-Listen aufscheint. Ella Lingens starb am 31. Dezember 2002 im Alter von 94 Jahren. Sie hätte ihre Freude gehabt. Der Sohn hat sie gewiss.

 

Ella Lingens: Gefangene der Angst. Ein Leben im Zeichen des Widerstandes. Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Peter Michael Lingens. Deuticke. 335 Seiten.