Die Polin Faye Schulman überlebte als Partisanin den Holocaust.
In: Die Presse-Spectrum. 13. Juni 1998.
Photographien sind materialisierte Erinnerung; der historische Augenblick im Bild gebannt. Ob Photographen anders, weil einprägsamer, erinnern? Sie sehen die Welt stets durchs Okkular: klar umgrenzt, auf das Wesentliche beschränkt, scharf gestellt, das Licht bewacht und wissen schon zuvor, was später zur Erinnerung wird. Die Sprache folgt hinterher. Manchmal gar erst nach Jahrzehnten, wenn Bilder zu Schmerz, Sprache zu Balsam geworden sind.
"In Gedanken schreibe ich dieses Buch schon seit einem halben Jahrhundert", beginnt Faye Schulman ihre Autobiographie und bei jeder Seite der Lektüre erfährt man warum. Faye Schulman ist Photographin. Bereits als junges Mädchen verbrachte sie Stunden in der Dunkelkammer ihres älteren Bruders Moische, der ihr dieses Handwerk lernte und der erst 16-jährigen die Leitung seines Photogeschäfts anvertraute. Fachkenntnisse, die ihr schließlich das Leben retten sollten. Ihr Heimatort war Lenin. Ein kleines polnisches Städtchen an der Grenze zur Sowjetunion mit zwölftausend Einwohnern; etwa die Hälfte waren Juden. Zwei Synagogen standen einer Kirche gegenüber. Juden und Nichtjuden kamen gut miteinander aus in Lenin, auch wenn der in Polen vorherrschende Antisemitismus rechtlich verankert war. Faye Schulman (damals noch Fagel Lazebnik) und ihre sechs Geschwister erlebten dort eine schöne Kindheit. Sie waren stolz auf ihre jüdische Erziehung, die ihnen der Vater - ein gutmütiger, erfolgloser Geschäftsmann - angedeihen ließ.
Doch von einem Tag auf den anderen wurde Lenin Teil einer untergehenden Welt. Hitlers Truppen besetzten Polen und Lenin kam unter sowjetische Herrschaft. Die junge Photographin hatte alle Hände voll zu tun. 'Paß mit Photo' lautete die Order der Sowjets und Fagel bekam sie alle ins Bild: die antisemitischen Offiziere des NKWD ebenso wie die Bauern, die ihr Spiegelbild nur aus Wassereimern kannten. Der ständig wachsende Flüchtlingsstrom aus dem polnischen Westen wurde weiter nach Osten gezerrt. Doch: "Niemand hätte voraussehen können, daß ironischerweise Sibirien der sicherste Ort für einen Juden werden sollte." Im Juni 1941 hatten die Nazitruppen Lenin erreicht. Als Photographin war Fagel auch den neuen Machthabern von Nutzen - zur Dokumentation der Hinrichtung ihres Volkes. Nur Schuster, Schneider, Hufschmied und Maler, 26 Menschen der gesamten jüdischen Bevölkerung von Lenin, ließ man eine Galgenfrist. Fagel war die 27. Die Massengräber waren gegraben. Maschinengewehre löschten alles jüdische Leben aus. Die Mutter, der Vater, der Bruder, die Schwester... "Die Nazis photographierten die ganze Aktion. Später brachten sie mir die Filme zum Entwickeln (...) Ich weinte nicht; der Schock hatte mich erstarren lassen."
Wenige Wochen später gelang Fagel Lazebnik die Flucht und schloß sich der Partisanenbrigade Molotow an. Zweitausend Mann, hauptsächlich Sowjetsoldaten, die den nationalsozialistischen Gefangenenlagern entkommen waren. Fagel war eine der acht Frauen. Wer Jude war, behielt es besser für sich. Für die inzwischen 19-jährige schien das Leben gelebt. Statt einer Zukunft blieb nur Verzweiflung und der Durst nach Rache. Als die Partisanen Lenin zurückeroberten war es an ihr auch den letzten Rest der Vergangenheit zu tilgen. Eigenhändig verbrannte sie ihr Elternhaus. Sie wollte es den Mördern nicht überlassen.
Fagel war eine mutige Partisanin gewesen - Kundschafterin, Krankenschwester, Chirurgin und wieder: Photographin. Über zwei Jahre hatte sie in den Wäldern verbracht; Pistole und Handgranate waren Teile ihrer Identität geworden, die sie im Sommer 1944, mit dem Vormarsch der sowjetrussischen Armee, abzugeben hatte. Der Krieg war für sie vorbei. Trotz Ehrung und Anerkennung, die ihr als Partisanin zuteil wurde, blieb für Fagel nur mehr "das Gefühl auf einen Friedhof zu wohnen." Sie mußte weg. Der erhoffte Weg nach Palästina wurde ihr verwehrt. Faye Schulman war 25 Jahre alt, als sie schließlich in Kanada Aufnahme fand. Ihre Bilder hatte sie mitgenommen, die durch nichts überklebt werden konnten. "Manchmal kommt mir diese vergangene Welt fast wirklicher vor als die gegenwärtige", schreibt sie nach jahrzehntelangem Rückblick. Gebannt hört man ihr lesend zu. Faye Schulman wollte mit ihren Erinnerungen den jüdischen Partisanen ein schriftliches Denkmal setzen. Sie hat es geschafft.
Faye Schulman: Die Schreie meines Volkes in mir. Wie ich als jüdische Partisanin den Holocaust überlebte. Aus dem Englischen von Gwynneth und Peter Hochsieder, geb., 269 S., (Lichtenberg Verlag, München)