"Vier Schwestern. Fernes Wien, fremde Welt"
von Ernst Strouhal
In: Alfred Klahr Gesellschaft. Nr. 4/2022. S. 33f.
Moriz Benedikt (1849-1920) war ein mächtiger Mann. Seit 1880 war er Mitherausgeber und dann Eigentümer der Neuen Freien Presse, die sich unter seiner Herrschaft zur einflussreichsten Zeitung der
Donaumonarchie entwickelte. Der despotische Tyrann war auch ein reicher Mann und der ältere der beiden Söhne, Karl (1877-1905), war sadistisch geprügelt zum Nachfolger bestimmt. Karl widersetzte
sich, wollte lieber zum Theater und starb völlig überraschend auf seiner Hochzeitsreise.
Es lag nun am jüngeren Bruder Ernst (1882-1973), der, gegen seinen Willen, ab 1920 das schwierige Erbe zu übernehmen hatte. In der Himmelstraße in Grinzing, Villa „Himmel 55“, schuf sich Ernst
Benedikt mit seiner Frau Irma (1879-1969) ein kulturverliebtes Privatimperium, mit vielen Hausangestellten und Chauffeur, in dem vier Töchter kleinlich, sparsam großgezogen wurden. Gerda
(1915-1970), Friedl (1916-1953), Ilse (1918-1969) und Susanne (1923-2014), die in intensiver Schwesternliebe geeint - ein möglicher Bruder ist inmitten der Dynamik schwer vorstellbar - gespielt
und gestritten haben, die in „Schwesternsehnsucht“ lebenslang in Verbindung blieben, trotz der je unterschiedlichen Lebensentwürfe. Die jüdische Herkunft spielte keine Rolle, bis Hitler die
Familie zu Juden machte, sie enteignete, die Villa arisierte und sie alle vertrieb – nach Paris, New York, Zürich, London und Stockholm. Ilse ist die einzige, die unmittelbar nach dem Krieg nach
Wien zurückkehrte.
Ilse ist die Mutter des Autors, dem mit diesem, mit seinem Buch etwas Außergewöhnliches gelungen ist. Einerseits rekonstruiert Ernst Strouhal berührend, einfühlsam einen aufregenden
Familienroman, der doch auch sein eigener ist. Selten lässt er seine Involvierung aufblitzen, wenn etwa der neunjährige Ernst (noch) über das Gelächter rätselt, als die älteste Schwester Gerda
bei Ilse in Wien zu Besuch war und meinte „alles hat sich immer um die Zeitung gedreht – die Scheiß Zeitung“ und die Mutter lachend antwortete: „Scheiß-Inquart, Scheiß-Zeitung,
Scheiß-Zeit.“
Andererseits ist die Rekonstruktion an sich beachtlich, dass der Autor in der Fülle des Materials nicht unterging. Die Qual der Auswahl ist förmlich zu spüren, denn die Benedikts waren eine
schreibende Familie, die zig-tausende Seiten an Briefen, Tagebüchern, Notizen, Artikeln, Broschüren, Romanen hinterließen. Strouhals Zurückhaltung ist verständlich, trotzdem wäre es interessant,
mehr über den dynamischen Prozess zu erfahren, der ‚seiner biographischen Wahrheit‘ zugrunde lag. Vielleicht in der zweiten Auflage.
Die Lektüre des Buches ist ein Erlebnis. Ernst Strouhal gelingt es die Briefstellerinnen zu bändigen, indem er die sorgsam ausgewählten Passagen kontextualisiert und damit ein einzigartiges
Familiendrama offenlegt, das von den vier Schwestern selbstbewusst gelebt und beschrieben wurde.
Die älteste der Schwestern, Gerda, lebte Freiheiten vor – wollte schon als Sechzehnjährige Künstlerin werden, verließ das Gymnasium und wurde zu einer Art Sekretärin des Vaters. Früh schrieb sie
erste Erzählungen, blieb jedoch noch ohne Orientierung. Zahlreiche Liebhaber, Streit und elterliche Ohrfeigen folgten und sie wurde in Verbannung zur jüngeren Schwester Friedl nach London
geschickt. Dort lernte sie ihren späteren Mann kennen, mit dem sie 1939 nach New York emigrierte. Er wurde Psychoanalytiker, Gerda übernahm Übersetzungsaufträge, machte selbst eine Psychoanalyse
und entwickelte sich zu einer schreibenden und malenden Sozialarbeiterin.
Friedl, die wie Gerda das Gymnasium frühzeitig verließ, wollte Schauspielerin werden, war bald verheiratet und geschieden. In unmittelbarer Himmel-Nachbarschaft wohnte Elias Canetti mit seiner
Frau Veza, der ihr hörig geliebter Schreib-Lehrer werden sollte. „Ich möchte so schrecklich gerne genau so werden wie Du willst“, schrieb sie in einem der rund 1500 erhaltenen Briefe an den
„Menschenfresser“ Canetti. Schon vor dem „Anschluß“ ist Friedl viel auf Reisen, ließ sich in London nieder und machte sich einen Namen als englische Autorin und Schriftstellerin Anna Sebastian.
Erstaunlich die Lebensenergie und der Tatendrang, der allen Schwestern eigen ist und von Friedl auf den Punkt beschrieben wird: „… es ist mir ein ungeheures Beduerfnis aus dieser Zeit, aus dieser
Emigrantenzeit etwas Ordentliches, Anstaendiges zu machen und besonders erfolgreich zu sein.“
Schwester Ilse maturierte 1936 und inskribierte Medizin. Politisiert durch die Ereignisse im Februar 1934 – eine „Radikalisierung ohne Umwege“ - engagierte sie sich im illegalen kommunistischen
Roten Studentenverband. Zehn Tage nach dem „Einmarsch“ saß sie im Zug nach Zürich, wo sie ihr Medizinstudium fortsetzte und 1942 beenden wird. Ihre politischen Aktivitäten fanden naturgemäß in
den Briefen keine Erwähnung. Sie leitete die kommunistische Fraktion in der Bewegung Freies Österreich und war für einige Genossen illegale Anlaufstelle, wie etwa Turl Maller und den bewunderten
Alfred Klahr, mit dem sie weiter in Briefkontakt blieb (3 Briefe sind im Buch abgedruckt).
Nach dem Krieg wird sie als einzige der Schwestern nach Wien zurückkehren, in den Goethehof ziehen und ebendort eine Praxis eröffnen. In der KPÖ fand Ilse mit ihrem Mann Emil Huk eine soziale und
politische Heimat, um im nachfaschistischen Wien bestehen zu können. Allein die Lektüre des Abschnitts über ihren Kampf um die Rückstellung der arisierten Villa, der sechs quälende Jahre
andauerte, ist mehr als beklemmend. Ilse war mit Leib und Seele Ärztin, schreibende Ärztin, die neben einer Aufklärungsbroschüre, ein Theaterstück und Gedichte verfasste.
Die jüngste Schwester Susanne wurde nach Abschluss der vierten Klasse Gymnasium von einer Tante im Sommer 1938 aus Wien abgeholt und nach Helsinki gebracht. Erst Ende 1940 wird sie wieder mit den
Eltern in Stockholm zusammentreffen, wo sie 1942 maturierte und die Laufbahn zur Journalistin einschlug. Über den Daily Telegraph und CBS landete sie beim antikommunistischen Sender Radio Free
Europe (ab 1952 in Paris) und damit quasi auf der Gegenseite der kommunistischen Schwester Ilse. Susanne überlebte die Schwestern um Jahrzehnte und war somit die einzige aus dem Familienverband,
mit der der Autor eine erwachsene Begegnung erleben durfte.
Im Jahre 1963 kehrten die Eltern Benedikt aus Schweden zurück nach Wien und lebten – das Ersparte war aufgebraucht – in bescheidenen Verhältnissen. Der Vater Ernst machte weiter, was er am besten
konnte: er schrieb und schrieb. Zeitungsartikel, Gedichte, historische Dramen über Perikles oder Grillparzer und Biographien über Napoleon, Alexander den Großen oder Don Quichote, die er seiner
Frau Irma diktierte. Die letzten Jahre verbrachte er allein im Altersheim für Künstler in Baden bei Wien.
Strouhals Buch ist voller eindrücklicher schriftlicher Erlebnisberichte, Erinnerungen, Visionen, Klagen, Liebesbeteuerungen usw. und nicht nur einmal regt sich das Bedürfnis, doch das
ungekürzte Schreiben lesen zu können. Etwa das einzigartige Dokument aus der Feder des Vaters, Ernst Benedikt, nachdem er am Tag des Novemberpogroms, am 10. November 1938, aus der Himmelstraße
abgeholt und fünf Tage inhaftiert wurde. Seine Entwürdigung, Misshandlung, Traumatisierung beschrieb er in einem fast fünfzig Seiten (!) langen Brief (er wird ausführlich zitiert) an seine
Töchter. Er fand eine Sprache für die „Bruchstelle in der Geschichte der Familie Benedikt.“ Eine Bruchstelle, die das schwesterliche Sehnsuchts-Quartett mit ihrer einzigartigen Korrespondenz zu
überbrücken imstande war, denn nach der Vertreibung waren die vier Schwestern nie wieder gemeinsam zusammengetroffen. Ernst Strouhal lässt uns durch seine empathische historisch und redaktionelle
Arbeit an diesem außergewöhnlichen Brückenschlag teilhaben, wie die vier vertriebenen Frauen schriftlich vereint blieben, die in den historischen Tragödien nicht untergingen, sondern selbstbewußt
jede für sich, mit trotzigem Elan, eine eigene Karriere erarbeiteten.
Ernst Strouhal: Vier Schwestern. Fernes Wien, fremde Welt. Wien, Paul Zsolnay Verlag, 2022.