Warnung vor dem irren Vater


Von der Last, Teil von etwas Großem zu sein: Lore Reich-Rubin über ihr Leben und ihre Eltern Wilhelm und Annie Reich.

In: Die Presse-Spectrum. 20. Juli 2019.


Die Zeit heilt keine Wunden. Das Unbewusste ist zeitlos. Diese Entdeckung Freuds betont die Dringlichkeit einer Entscheidung, im Alter von 91 Jahren noch eine Autobiographie zu publizieren. Ein letztes Wort, eine Spur von Beichte, ein Versuch sich die Last von der Seele zu schreiben: einer Abrechnung gleich. 

 

In dieser Stimmung liest sich das Buch von Lore Reich-Rubin, der jüngeren der zwei Töchter von Annie (1902 bis1971) und Wilhelm Reich (1897 bis1957), dem wohl berühmtesten Schüler Sigmund Freuds. Reich, Enfant terrible in der Geschichte der Psychoanalyse, Kommunist, dessen Bücher von den Nazis und den amerikanischen Behörden verbrannt wurden; Begründer der Körpertherapie, die von der 68er-Bewegung unter dem Schlagwort der „freien Liebe“ idealisiert wurde; zuletzt war er der Entdeckung der Lebensenergie fanatisch auf der Spur war. Im Schatten dieses wissenschaftlichen Abenteurers hatte die Tochter ihr Leben einzurichten und sie beschreibt in einer oft irritierenden Radikalität, die erlebten Milieus und Stimmungen, in denen sie aufwuchs. 

 

Die einzige Konstante in ihrem jungen Leben war die vier Jahre ältere Schwester Eva. Konstant in der Konkurrenz, da sie von Beginn explizit als Tochter des Vaters, Lore als Tochter der Mutter benannt wurde. Auf nichts sonst war Verlass. Die Tochter misstraute der Erwachsenenwelt, die sich ihren hohen Idealen völlig verschrieb, war sie doch „Teil von etwas Großem“- der kommunistischen und der psychoanalytischen Bewegung – und nicht mehr Teil der Lebenswelt des kleinen Mädchens.

 

Einsam in der Berliner „kommunistischen Kinderkommune“, oder verlassen in der Wiener „Kinderpension“ mit integrierter Therapie war sie zusammen mit anderen berühmten Kindern – etwa dem Sohn Sergej Eisensteins, dem Enkel Leo Trotzkis. Die kleine Lore hörte auf zu sprechen und wurde magersüchtig. Die notwendige professionelle Hilfe liest sich nicht nur heute irritierend, wenn die beste Freundin der Mutter als Therapeutin auftrat, die von Anna Freud supervidiert wurde, die wiederum die Analytikerin der Mutter gewesen war und das Mädchen von allen Seiten zu hören bekam, doch den Vater zu meiden, da er verrückt sei. Kein Wunder, dass die Ehe zwischen Annie Reich, „dem geduldigen Engel“, der nach sieben Abtreibungen, schwer depressiven Frau, und dem stets „geizigen“ und cholerischen Wilhelm Reich in Berlin geschieden wurde. Erstaunlich, dass für das Mädchen der „Heil“ brüllende Mann im Radio allmählich dem Vater ähnelte, der „sich auch in immer größer werdende Wut hineinsteigerte – die Anspannung der Eskalation war die gleiche für mich.“ 

 

Die getrennte Flucht der Eltern führte in die USA. Die Mutter mit ihren beiden Töchtern von Berlin über Prag nach New York, der Vater von Berlin über Kopenhagen, Oslo ebenfalls nach New York. Lore Reich hatte alle Mühe, Fuß zu fassen. Mutter Annie teilte inzwischen ihr Leben mit dem russischen Revolutionär Thomas Rubinstein, der sich weigerte Englisch zu lernen und den Rest seines Lebens damit verbrachte, sein konfisziertes Manuskript über die Geschichte Russlands zu rekonstruieren, während Lore als Studentin in der trotzkistischen Socialist Workers Party eine neue Heimat fand, die sich alsbald als Sekte entpuppen sollte. Im Widerstand folgte der Austritt mit ihrem Lebenspartner, dem Historiker Julius Rubin, den sie 1946 18-jährig heiratete und mit ihm endlich eine verlässliche Beziehung fand. Das Hochzeitgeschenk des Vaters: fünf seiner Bücher. 

 

Die Lebensentwürfe der Töchter folgten der ursprünglichen Bestimmung: Eva Reich, Medizinerin, entwickelte sich zur Assistentin des Vaters; zu „seiner Sklavin“ – so die Schwester Lore, die dem Weg der Mutter folgte, ebenfalls Medizin studierte und Psychoanalytikerin in Pittsburgh wurde.

 

Lore Reich-Rubin wirft einen innerfamiliären Blick auf ein Stück Wissenschaftsgeschichte, die sie uns durch 90-jährige Kinderaugen nachvollziehen lässt. Ein aufschlussreiches Buch, das sich ein ordentliches Lektorat verdient hätte.

 

Karl Fallend

 

 

Lore Reich-Rubin: Erinnerungen an eine chaotische Welt. Mein Leben als Tochter von Annie Reich und Wilhelm Reich. 253 S., brosch. € 30, 80. (Psychosozial-Verlag, Gießen)