An wen soll ich schreiben? An Gott?

Aus dem Programmheft:


Brigitte Heusinger

Zum Stück

Ausschnitte des Buches von Karl Fallend landeten auf unseren Schreibtischen, versehen mit der Frage „Können wir daraus ein Stück machen?“ Wir lasen, lasen fasziniert. Die Sensibilität und Ruhe, die durch die Zeilen drang, mit der der Autor seine Gegenüber beschrieb, ließen uns nicht kalt. Seine liebevolle Betrachtung der Menschen, aber auch die selten eingesetzte Schärfe, die dann allerdings auch allzu berechtigt schien. Hier saß kein kalter Wissenschaftler und sammelte Fakten, hier saß jemand, den das, was er hörte, traf und betraf und der seine eigenen emotionalen Reaktionen selbstreflektierend als Forschungsinstrument benutzte, die Zwangsarbeiter und ihre teils ambivalent-grotesken Lebenssituationen richtig und im Wesen zu verstehen. Erst war es nahezu unmöglich, die professionelle Brille aufzubehalten, sich der Aufgabe zu stellen, die theatralische Verwertbarkeit zu prüfen. Dann tauchte massiv die Frage auf, die man sich bei solch einem Thema immer stellen muß: Darf man das Grauen ästhetisieren, darf man Kunst aus Auschwitz machen? Und wenn man sich durchringt, diese Fragen mit ja zu beantworten, welche Form ist solch eines Themas würdig? Wie schafft man es, den Schatz dieser Lebensgeschichten adäquat zu bewahren?

 

Neben der literarisch/emotionalen Qualität waren vor allem zwei Gründe entscheidend dafür, dass wir unsere Skrupel überwanden. Die Geschichten gehen uns direkt an. Die Zwangsarbeiter lebten in der Stadt, in der wir leben. Sie sind die gleiche Wege gegangen, haben auf den gleichen Plätzen gesessen. Unsere Heimat war zeitweise ihre Heimat, wenn auch eine verordnete, erzwungene Heimat. Vor 60 Jahren waren die vielen ausländischen Arbeiter ein Bestandteil des Linzer Stadtlebens, auch wenn sie nicht nur geographisch eine Randexistenz führten. Aber dieses Kapitel ist wie ausgelöscht und das Gefühl des Unheimlichen verbreitete sich, wenn vertraute Orte im Text auftauchen, deren Schrecken sich über die Jahre vollkommen neutralisiert haben. Theater sollte sich mit Wesentlichem auseinander setzen und was ist wesentlicher als vor der eigenen Tür zu kehren und tabuisierte, verdrängte Bereiche der eigenen (Vor-)Geschichte aus ihrer Heimlichkeit zu befreien. Und so beschlich uns ein ganz unbescheidener Wunsch: Das vergessene, kümmerliche Mahnmal für das KZ I, das in unwirtlicher Umgebung seine einsame Randexistenz in der Lunzerstraße fristet, ein bißchen mehr ins Bewußtseins-Zentrum von Linz zu rücken.

 

Doch neben dem lokalen Bezug war der Umgang mit dem Thema Nationalsozialismus ausschlaggebend für die Realisierung. Keine schwarz-weiß-Malerei, keine Opfer-Täter-Dichotomie dominieren den Text. Nein, ganz im Gegenteil, viele Irritationen entstanden beim Lesen, ausgelöst durch positive Erinnerungen an die Linzer Zeit, die im Satz „Linz - das war Garten Eden“ gipfeln. Es gibt eine Liebesgeschichte, eine groteskes Fußballspiel, gute Beziehungen zu Vorgesetzten, Tschechen, die in Ebelsberg essen gehen und reichlich Trinkgeld geben konnten etc. Und es gibt Tod, Folter, Hunger, Erniedrigung. Der Text gestattet es, unterschiedliche Wahrnehmung zuzulassen, und die Wahrnehmungen und Erinnerungen haben allen Grund unterschiedlich zu sein, denn ein gut kalkuliertes Machtmittel der nationalsozialistischen Unterdrückungsmaschinerie sorgte dafür, dass eine klar definierte Hierarchie existierte und damit sehr unterschiedliche Lebensbedingungen im allgemeinen Schreckensscenarium der Zwangsarbeit. Dieses Zulassen der Zweideutigkeit, der „Tänze auf dem Vulkan“ ist wohl auch ein Resultat des zunehmenden Abstandes zum Geschehen, einer Sichtweise und einem differenzierteren Umgang mit der NS-Geschichte, die das Gesicht unserer Generation trägt, das der Nachachtundsechziger.

 

Neben dem starken Bemühen, ein unaufwendiges, schlichtes, puristisches „Stück“ zu konzipieren, das weitestgehend auf seinen ‚Kunstcharakter‘ verzichtet, strukturierte eine Entscheidung die Entstehung des Theatertextes: Die monologische Struktur sollte beibehalten werden. Hier reden Menschen nicht miteinander, es finden keine Dialoge statt. Entstanden in Konfrontation mit einem einzigen Zuhörenden kommen intime Dinge zur Sprache, die zum Teil noch nie ausgesprochen wurden und tief vergraben in der Seele lagern. Jeder ist allein seinen eigenen Erinnerungen ausgeliefert, gerade bei Traumata, die sich der Nachvollziehbarkeit durch Dritte entziehen. So wurde im Stück selbst auf die  Rolle des Zuhörer verzichtet, denn bestenfalls sollte wohl das Publikum diesen Part übernehmen.

 

Und auch die Regie von Nikolaus Büchel zollt der Einsamkeit des Erinnerns und der Erinnernden Rechnung: Menschen leben nebeneinander in einem Raum, bleiben autistisch, treten zeitweise in Kontakt, um dann wieder ganz in ihren eigenen Geschichten zu versinken. Zwei Ebenen werden gebaut, die Erzählebene und die Beziehungsebene, die sich zeitweise überlappen, um dann wieder auseinander zu driften. Die Doppelbödigkeit ist beabsichtigt, auch der Bruch zwischen behaupteter szenischer Realität und offenem Theaterspiel. Nicht umsonst sitzt die Souffleuse auf der Bühne und gibt inszeniert Stichwörter. Nicht umsonst agieren die Musiker auf der Szene und kommentieren, unterstützen und unterbrechen das Geschehen. Die Schauspieler sind Schauspieler, die sich in die Rollen verschiedener Zwangsarbeiter begeben, mehrere Schicksale auf sich vereinen, um dann doch zu so etwas wie einer Figur zu werden.

 

Nicht der Anspruch auf endgültige allgemeine Wahrheit soll gesucht werden, sondern kleine individuelle Wahrheiten, biographische Momentaufnahmen, die betroffen machen, irritieren, sich widersprechen mögen oder miteinander verstärken.

 

Allesamt sollen gehört werden.